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Karim El-Gawhary sprach vor ausverkauftem Haus

"Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft" sagte der ORF Nahost-Experte bei der Veranstaltung von KBW, Hiphaus und Caritas

Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft


Was ist los in der arabischen Welt? – auf diese Frage ging der Nahost-Experte und Leiter des Nahost-Büros des ORF in Kairo, Karim El-Gawhary, bei einer Veranstaltung des Katholischen Bildungswerkes im Hippolythaus in St. Pölten ein.

Er kennt den arabischen Raum wie kaum ein anderer: 1963 als Sohn einer deutschen Mutter und eines ägyptischen Vaters in München geboren, studierte El-Gawhary Islamwissenschaften und Politik in Berlin. Seit 1991 arbeitet er als Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, seit 2004 ist er Leiter des ORF-Büros in Kairo. Beim Vortrag im Hippolythaus am Mittwoch, 7. März, analysierte der Journalist und Buchautor vor rund 200 Zuhörern die derzeitige Lage im Nahen Osten.

„Sie sind mit der arabischen Welt verbunden – ob Sie das wollen oder nicht! Die arabische Welt mit all ihren Tumulten und Turbulenzen, die sie produziert, ist auch ein europäisches Problem. Wir sind so eine Art Schicksalsgemeinschaft!““, betonte El-Gawhary gleich zu Beginn seines Vortrages. Und konkretisierte das auch gleich: „Wenn Sie hier Ihr Auto volltanken, dann hat das mit der arabischen Welt zu tun, woher das Erdöl dazu kommt. Das Sicherheitsproblem in der arabischen Welt ist auch zu einem europäischen Sicherheitsproblem geworden, und die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, werden in dieser Region produziert.“

Gleichzeitig, so der Korrespondent, sei Europa und der Westen auch immer ein Teil des arabischen Problems. „Das dürfen wir nicht vergessen. Vor zwei, drei Jahren haben die Golfstaaten Waffen im Wert von 110 Milliarden Dollar importiert. Woher kommen diese Waffen?“, fragte Journalist rhetorisch in die Runde. Gleichzeitig wies auch darauf hin, dass Europa jahrelang jene arabischen Autokratien und Diktaturen unterstützt habe, die „uns überhaupt erst in diese Situation gebracht haben.“ Die Diktatoren und Autokraten hätten den Westen signalisiert: „Wenn ihr nicht die Islamisten haben wollt, dann müsst ihr mit uns vorlieb nehmen.“ Damit seien über Jahrzehnte schwellende Konflikte in der Gesellschaft, die eigentlich schon lange hätten ausbrechen müssen, unterbunden worden, so El-Gawhary. „Das war das wichtigste Marketingkonzept aller arabischen Diktaturen und ist es bis heute.“

Zur Frage, wie man den syrischen Bürgerkrieg heute beenden kann, meinte der ORF-Korrespondent, dass es einerseits gelte zu verstehen, warum der IS entstanden sei – nämlich u. a. durch die Unterstützung Saudi Arabiens, das Syrien unter Kontrolle bekomme wollte –  und es gelte zu verstehen, wie der IS heute funktioniere – z. B. als Schutzmacht der Sunniten im Irak. Andererseits müsse man sich davon verabschieden, dass dieser Konflikt militärisch gelöst werden könne. „Wir machen den Fehler, dass wir immer noch nach Washington schauen, aber die Regionalmächte spielen heute eine viel, viel größere Rolle als sie jemals gespielt haben. Und ich glaube, da liegt auch der Schlüssel für das Ende des syrischen Bürgerkriegs. Wenn die drei Regionalmächte – Türkei, Saudi Arabien und Iran – an einem Strang ziehen würden, wäre der syrische Bürgerkrieg bald beendet. Sie haben einen kleinsten gemeinsamen Nenner und das ist die einzige Hoffnung, nämlich die Angst, dass die Instabilität, die da in Syrien entstanden ist, auf sie übergreift.“

In Bezug auf die Flüchtlinge meinte der ORF-Mann: „Wir haben in Europa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Flüchtlingspolitik, eine Krise der Solidarität.“ Dabei müsse man sich vor Augen halten, dass es weltweit rund 60 Millionen Flüchtlinge gäbe, aber nur rund ein bis zwei Millionen nach Europa gekommen seien. Die 10-Top-Länder, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, seien, so El-Gawhary, keine europäischen. So habe beispielsweise der Libanon mit 4,5 Mio Einwohnern rund zwei Mio Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. El-Gawhary: „Anstatt zu diskutieren: Wie schaffen wir diese riesige Herausforderung?,  sollten wir uns fragen: Wie schaffen wir diese Herausforderung in vernünftige Bahnen zu lenken?“ Und weiter: „Ich glaube, wenn wir in zehn Jahren wieder in Europa auf diese Zeit zurückblicken, dann wird sich am Ende nur eine einzige Frage stellen, nämlich: Ist Europa an dieser Frage gescheitert oder daran gewachsen?“ Die Realität, ist der Journalist überzeugt, „wird über uns drüberrollen, ob wir das wollen oder nicht.“

Berührend die Frage eines syrischen Flüchtlings, der seit 15 Monaten in Österreich ist und in einem guten Deutsch fragte, warum die Menschen im Nahen Osten mit der Revolution gescheitert seien und es nicht schaffen konnten, demokratische Verhältnisse herzustellen. El-Gawhary: „Wer sagt denn, dass wir gescheitert sin? Wir sind nicht am Ende der Geschichte, wir ziehen heute keinen Schlussstrich, denn die arabische Welt ist mitten im Umbruch.“ So werde Geschichte gemacht, das seien langjährige Prozesse. Auch die französische Revolution habe nicht in einem Jahr aus Frankreich einen säkularen Staat gemacht. Der Journalist: „Einer hat mal gesagt: Das ist wie ein Fußballspiel, wenn in der zweiten Minute ein to geschossen wird. Wir haben gefeiert und die ganze Welt mit uns, und dann haben wir vergessen, dass noch 88 Minuten vor uns liegen.“


Text: Sonja Planitzer, kirche bunt

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